16. September 2023

 “Wenn das Kopftuch fällt, fällt auch das islamische Regime”

Immer mehr Frauen legen im Iran das Kopftuch ab und widersetzen sich den Moralvorschriften des Mullah-Regimes. Im bruno.-Interview erklärt ZdE-Vorsitzende Mina Ahadi, welche Hoffnungen sie in die aktuellen Proteste setzt und welche Verantwortung der deutschen Politik zukommt.

bru­no.: Mil­lio­nen Ira­ne­rin­nen und Ira­ner gin­gen ver­gan­ge­nes Jahr auf die Stra­ße, um die gegen das isla­mi­sche Mul­lah-Regime zu pro­tes­tier­ten. Aus­lö­ser war der Tod der 22-jäh­ri­gen Mah­sa Ami­ni, die nach einem angeb­li­chen Ver­stoß gegen die Kopf­tuch­pflicht in Poli­zei­ge­wahr­sam gestor­ben ist. Was unter­schei­det die aktu­el­len Pro­tes­te von vor­he­ri­gen?

Mina Aha­di: Die Pro­tes­te haben eine neue Dimen­si­on ange­nom­men. Bei der soge­nann­ten „Grü­nen Revo­lu­ti­on“ im Jahr 2009 wur­den Demons­tra­tio­nen haupt­säch­lich in Groß­städ­ten orga­ni­siert und von der Mit­tel­schicht getra­gen. Wäh­rend sich die For­de­run­gen damals auf Neu­wah­len und Refor­men beschränk­ten, geht es heu­te um nichts weni­ger als den Sturz des Mul­lah-Regimes. Erst­mals demons­trie­ren Men­schen aller Schich­ten und Gene­ra­tio­nen, um dem theo­kra­ti­schen Sys­tem ein Ende zu set­zen. Frau­en haben öffent­lich ihre Kopf­tü­cher ver­brannt, Sta­tu­en wur­den nie­der­ge­ris­sen und es gab hef­ti­ge Stra­ßen­schlach­ten mit der Poli­zei. Der nun welt­weit bekann­te Ruf „Jin, Jiyan, Azadî“ (deutsch: „Frau, Leben, Frei­heit“) ist zum zen­tra­len Slo­gan einer Bewe­gung gewor­den, die den Auf­takt einer Revo­lu­ti­on mar­kiert.

Wie reagiert das ira­ni­sche Regime auf die Pro­tes­te?

Das Regime geht mit bru­ta­ler Här­te gegen die Pro­test­be­we­gung vor. Hun­der­te Men­schen wur­den auf offe­ner Stra­ße erschos­sen, Zehn­tau­sen­de will­kür­lich inhaf­tiert. In den ver­gan­ge­nen Mona­ten gab es eine regel­rech­te Hin­rich­tungs­wel­le, bei der Todes­ur­tei­le im Schnell­ver­fah­ren voll­streckt wur­den – unter ande­rem, weil ihnen „Kriegs­füh­rung gegen Gott“ vor­ge­wor­fen wur­de. Allein im ers­ten Halb­jahr 2023 sind min­des­tens 354 Men­schen hin­ge­rich­tet wor­den. Doch die mör­de­ri­sche Repres­si­on des Regimes ist kein Zei­chen von Stär­ke, son­dern von Schwä­che und Angst. Umfra­gen deu­ten dar­auf hin, dass mehr als 80 Pro­zent der Ira­ne­rin­nen und Ira­ner die Isla­mi­sche Repu­blik ableh­nen. Die kle­ri­ka­le Füh­rung weiß, dass sie in wei­ten Tei­len der Bevöl­ke­rung an Rück­halt ver­lo­ren hat und sich nur durch Gewalt an der Macht hal­ten kann.

War­um ist das Kopf­tuch für das Regime von so gro­ßer Bedeu­tung?

Das Kopf­tuch ist kein nor­ma­les Klei­dungs­stück, son­dern ein poli­ti­sches Instru­ment, um die Reli­gi­on im Pri­vat­le­ben der Men­schen zu ver­an­kern und Kon­trol­le über sie aus­zu­üben. Es ist kein Zufall, dass Aja­tol­lah Kho­mei­ni nach der soge­nann­ten „Isla­mi­schen Revo­lu­ti­on“ im Jahr 1979 als ers­tes die Kopf­tuch­pflicht anord­ne­te. In der Fol­ge gab es zahl­rei­che Über­grif­fe auf Frau­en, die sich dem Befehl ver­wei­ger­ten. Kho­mei­nis Anhän­ger skan­dier­ten „Ja Rusa­ri, ja tus­a­ri“, was so viel bedeu­tet wie „Ent­we­der Kopf­tuch oder ein Schlag auf den Kopf“. Dar­auf­hin bil­de­te sich eine gro­ße Frau­en­be­we­gung. Tau­sen­de gin­gen auf die Stra­ße, um gegen den Kopf­tuch­zwang zu demons­trie­ren. Sie woll­ten sich nicht ver­schlei­ern, son­dern in Frei­heit und ohne isla­mi­sche Moral­vor­schrif­ten leben.

Die aktu­el­len Pro­tes­te ste­hen in der Tra­di­ti­on die­ses Frei­heits­kamp­fes. Es geht nicht nur um ein Stück Stoff, son­dern um Gleich­be­rech­ti­gung und Selbst­be­stim­mung. Das Kopf­tuch ist Aus­druck reli­giö­ser Bevor­mun­dung, die in alle Berei­che des All­tags reicht: Im Iran dür­fen Frau­en vie­le Beru­fe nicht aus­üben, Homo­se­xua­li­tät wird rigo­ros ver­folgt und Abtrei­bun­gen sind unter Andro­hung der Todes­stra­fe ver­bo­ten. Für die Mul­lahs ist der Kopf­tuch­zwang des­halb über­le­bens­wich­tig. Ohne die Macht, über das Leben der Men­schen zu ver­fü­gen, ero­diert das Fun­da­ment ihrer Herr­schaft. Wenn das Kopf­tuch fällt, fällt auch das isla­mi­sche Regime.

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