Mitte Oktober sprach Bundeskanzler Friedrich Merz bei einer Pressekonferenz von einem Problem „im Stadtbild” und forderte im selben Atemzug mehr Abschiebungen. Was folgte, war vorhersehbar: tagelange Empörung, Proteste in mehreren Städten, Gegenvorwürfe aus der Union. Dann kam die Empörung über die Empörung; Vorwürfe der Überempfindlichkeit, der politischen Korrektheit, der Realitätsverweigerung. Diese Empörungsspirale dreht sich immer schneller und führt nirgendwohin. Sie muss durchbrochen werden.
Man kann durchaus auch ohne moralische Entrüstung oder persönlicher Diffamierung zu der Einschätzung kommen, dass die Aussage von Merz populistisch ist und rassistische Klischees bedient. Sie ist populistisch, weil sie real existierende Ängste im Stammtisch-Jargon adressiert – nicht um sie konstruktiv zu lösen, sondern um daraus politisches Kapital zu schlagen. Sie bedient rassistische Klischees, weil sie Migration und Kriminalität undifferenziert vermengt und das Problem am äußeren Erscheinungsbild von Menschen festmacht.
Doppelte Betroffenheit
Besonders Ex-Muslime sind von dieser Fremdzuschreibung betroffen. Wir haben uns bewusst vom Islam abgewandt; oft unter erheblichen persönlichen Risiken. Dennoch werden wir aufgrund unserer Namen, unseres Aussehens oder unserer Akzents weiterhin als Muslime wahrgenommen und behandelt. Statt für unsere individuellen Geschichten interessieren sich viele vor allem für unsere Gesichter.
Zugleich wissen Ex-Muslime aus eigener Erfahrung, wie stark reaktionäre und patriarchale Strukturen in islamisch geprägten Communities ausgeprägt sind. Diese Probleme müssen offen angesprochen werden – und genau das tun humanistische und säkulare Verbände seit vielen Jahren. Leider wurden die differenzierten Beiträge etwa der „Kritischen Islamkonferenz“ oder vom „Arbeitskreis Politischer Islam (AK Polis)“ von der breiten Öffentlichkeit bislang kaum wahrgenommen. Teile der politischen Linken und der Grünen begegnen fundamentalistischen Strömungen stattdessen mit einer problematischen Nachsicht. Aus Angst, als „islamfeindlich“ zu gelten, wird der Politische Islam als kulturelle Ausdrucksform einer Minderheit verharmlost. Damit aber werden jene gestärkt, die religiöse Autorität über universelle Menschenrechte stellen.
Differenzierung statt Empörung
Vorbildlich hat sich jüngst Grünen-Chef Felix Banaszak geäußert, indem er reale Probleme anspricht – von „Angsträumen” in Städten bis zu konkreten Integrationsherausforderungen. Er benennt sowohl die Probleme als auch die Verantwortung der Politik, ohne dabei in die Populismusfalle zu treten.
Der aktuelle offene Brief von mehr als 50 prominenten Frauen ist demgegenüber ein ambivalentes Beispiel dafür, woran die Debatte immer wieder scheitert. Zwar stellen die Unterzeichnerinnen durchaus sinnvolle Forderungen; von besserer Strafverfolgung sexualisierter Gewalt bis zu ausreichend finanzierten Frauenhäusern. Zugleich werden aber reale Probleme ausgeblendet, die einen großen Teil der Bevölkerung beschäftigen – darunter auch viele Menschen mit Migrationsgeschichte. Wer diese Themen tabuisiert oder relativiert, überlässt sie den falschen Akteuren.
Falsche Alternativen
Die „Stadtbild”-Debatte offenbart den Erregungszustand einer Gesellschaft, die in binären Oppositionen gefangen ist. Doch die richtige Position liegt nicht irgendwo zwischen Rechtspopulismus und Kulturrelativismus – sie liegt jenseits dieser falschen Alternativen. Es geht nicht darum, einen Mittelweg zu finden, sondern für einen konsequenten Humanismus und Säkularismus einzustehen. Denn es ist möglich, Muslimfeindlichkeit zu verurteilen, ohne islamistische Ideologie zu relativieren. Es ist möglich, gegen Rassismus zu kämpfen, ohne patriarchale Strukturen zu beschönigen. Und es ist möglich, kulturelle Vielfalt zu schätzen, ohne universelle Menschenrechte zu opfern.
Wer die Auseinandersetzung mit dem Politischen Islam scheut, schwächt den gesellschaftlichen Zusammenhalt ebenso wie jene, die aus Angst vor Veränderung in nationalistische Muster zurückfallen. Die Verteidigung der offenen Gesellschaft verlangt beides: Engagement gegen rassistische Ausgrenzung und gegen den Politischen Islam. Nur so wird die liberale Gesellschaft gegen ihre Feinde bestehen können.

