29. Oktober 2025

Für ein humanistisches Stadt- und Menschenbild

Nach den Äußerungen von Friedrich Merz zum „Stadtbild" folgte der bekannte Reflex: Empörung hier, Beifall dort. Doch weder moralische Entrüstung noch kulturkämpferischer Populismus bringen unsere Gesellschaft weiter. Ein Kommentar von ZdE-Vorsitzende Mina Ahadi.

Mit­te Okto­ber sprach Bun­des­kanz­ler Fried­rich Merz bei einer Pres­se­kon­fe­renz von einem Pro­blem „im Stadt­bild” und for­der­te im sel­ben Atem­zug mehr Abschie­bun­gen. Was folg­te, war vor­her­seh­bar: tage­lan­ge Empö­rung, Pro­tes­te in meh­re­ren Städ­ten, Gegen­vor­wür­fe aus der Uni­on. Dann kam die Empö­rung über die Empö­rung; Vor­wür­fe der Über­emp­find­lich­keit, der poli­ti­schen Kor­rekt­heit, der Rea­li­täts­ver­wei­ge­rung. Die­se Empö­rungs­spi­ra­le dreht sich immer schnel­ler und führt nir­gend­wo­hin. Sie muss durch­bro­chen wer­den.

Man kann durch­aus auch ohne mora­li­sche Ent­rüs­tung oder per­sön­li­cher Dif­fa­mie­rung zu der Ein­schät­zung kom­men, dass die Aus­sa­ge von Merz popu­lis­tisch ist und ras­sis­ti­sche Kli­schees bedient. Sie ist popu­lis­tisch, weil sie real exis­tie­ren­de Ängs­te im Stamm­tisch-Jar­gon adres­siert – nicht um sie kon­struk­tiv zu lösen, son­dern um dar­aus poli­ti­sches Kapi­tal zu schla­gen. Sie bedient ras­sis­ti­sche Kli­schees, weil sie Migra­ti­on und Kri­mi­na­li­tät undif­fe­ren­ziert ver­mengt und das Pro­blem am äuße­ren Erschei­nungs­bild von Men­schen fest­macht.

Dop­pel­te Betrof­fen­heit

Beson­ders Ex-Mus­li­me sind von die­ser Fremd­zu­schrei­bung betrof­fen. Wir haben uns bewusst vom Islam abge­wandt; oft unter erheb­li­chen per­sön­li­chen Risi­ken. Den­noch wer­den wir auf­grund unse­rer Namen, unse­res Aus­se­hens oder unse­rer Akzents wei­ter­hin als Mus­li­me wahr­ge­nom­men und behan­delt. Statt für unse­re indi­vi­du­el­len Geschich­ten inter­es­sie­ren sich vie­le vor allem für unse­re Gesich­ter.

Zugleich wis­sen Ex-Mus­li­me aus eige­ner Erfah­rung, wie stark reak­tio­nä­re und patri­ar­cha­le Struk­tu­ren in isla­misch gepräg­ten Com­mu­ni­ties aus­ge­prägt sind. Die­se Pro­ble­me müs­sen offen ange­spro­chen wer­den – und genau das tun huma­nis­ti­sche und säku­la­re Ver­bän­de seit vie­len Jah­ren. Lei­der wur­den die dif­fe­ren­zier­ten Bei­trä­ge etwa der „Kri­ti­schen Islam­kon­fe­renz“ oder vom „Arbeits­kreis Poli­ti­scher Islam (AK Polis)“ von der brei­ten Öffent­lich­keit bis­lang kaum wahr­ge­nom­men. Tei­le der poli­ti­schen Lin­ken und der Grü­nen begeg­nen fun­da­men­ta­lis­ti­schen Strö­mun­gen statt­des­sen mit einer pro­ble­ma­ti­schen Nach­sicht. Aus Angst, als „islam­feind­lich“ zu gel­ten, wird der Poli­ti­sche Islam als kul­tu­rel­le Aus­drucks­form einer Min­der­heit ver­harm­lost. Damit aber wer­den jene gestärkt, die reli­giö­se Auto­ri­tät über uni­ver­sel­le Men­schen­rech­te stel­len.

Dif­fe­ren­zie­rung statt Empö­rung

Vor­bild­lich hat sich jüngst Grü­nen-Chef Felix Banas­zak geäu­ßert, indem er rea­le Pro­ble­me anspricht – von „Angst­räu­men” in Städ­ten bis zu kon­kre­ten Inte­gra­ti­ons­her­aus­for­de­run­gen. Er benennt sowohl die Pro­ble­me als auch die Ver­ant­wor­tung der Poli­tik, ohne dabei in die Popu­lis­mus­fal­le zu tre­ten.

Der aktu­el­le offe­ne Brief von mehr als 50 pro­mi­nen­ten Frau­en ist dem­ge­gen­über ein ambi­va­len­tes Bei­spiel dafür, wor­an die Debat­te immer wie­der schei­tert. Zwar stel­len die Unter­zeich­ne­rin­nen durch­aus sinn­vol­le For­de­run­gen; von bes­se­rer Straf­ver­fol­gung sexua­li­sier­ter Gewalt bis zu aus­rei­chend finan­zier­ten Frau­en­häu­sern. Zugleich wer­den aber rea­le Pro­ble­me aus­ge­blen­det, die einen gro­ßen Teil der Bevöl­ke­rung beschäf­ti­gen – dar­un­ter auch vie­le Men­schen mit Migra­ti­ons­ge­schich­te. Wer die­se The­men tabui­siert oder rela­ti­viert, über­lässt sie den fal­schen Akteu­ren.

Fal­sche Alter­na­ti­ven

Die „Stadtbild”-Debatte offen­bart den Erre­gungs­zu­stand einer Gesell­schaft, die in binä­ren Oppo­si­tio­nen gefan­gen ist. Doch die rich­ti­ge Posi­ti­on liegt nicht irgend­wo zwi­schen Rechts­po­pu­lis­mus und Kul­tur­re­la­ti­vis­mus – sie liegt jen­seits die­ser fal­schen Alter­na­ti­ven. Es geht nicht dar­um, einen Mit­tel­weg zu fin­den, son­dern für einen kon­se­quen­ten Huma­nis­mus und Säku­la­ris­mus ein­zu­ste­hen. Denn es ist mög­lich, Mus­lim­feind­lich­keit zu ver­ur­tei­len, ohne isla­mis­ti­sche Ideo­lo­gie zu rela­ti­vie­ren. Es ist mög­lich, gegen Ras­sis­mus zu kämp­fen, ohne patri­ar­cha­le Struk­tu­ren zu beschö­ni­gen. Und es ist mög­lich, kul­tu­rel­le Viel­falt zu schät­zen, ohne uni­ver­sel­le Men­schen­rech­te zu opfern.

Wer die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Poli­ti­schen Islam scheut, schwächt den gesell­schaft­li­chen Zusam­men­halt eben­so wie jene, die aus Angst vor Ver­än­de­rung in natio­na­lis­ti­sche Mus­ter zurück­fal­len. Die Ver­tei­di­gung der offe­nen Gesell­schaft ver­langt bei­des: Enga­ge­ment gegen ras­sis­ti­sche Aus­gren­zung und gegen den Poli­ti­schen Islam. Nur so wird die libe­ra­le Gesell­schaft gegen ihre Fein­de bestehen kön­nen.

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